Der AAUT hat mir etwas sehr Wichtiges gezeigt und mir eine sehr bedeutsame Fähigkeit geschenkt: Die Welt mit meinem Herzen zu betrachten.
Der Al Andalus Ultimate Trail gehört wohl zu den prägendsten Lauferfahrungen, die ich bisher als Läuferin gemacht habe. Wenn ich vom Al Andalus spreche, dann meine ich damit nicht nur den Lauf selbst, sondern ebenso die Vorgeschichte samt meinen Beweggründen, warum ich an diesem Lauf teilnahm. Ich würde den Al Andalus sogar als eine Art Metamorphose in meinem Leben bezeichnen. Aber dazu komme ich noch.
Zuerst ein paar Worte zum Event: Der Al Andalus Ultimate Trail ist ein 230-Kilometer-Lauf, der in 5 Etappen gelaufen wird, dies im Juli bei Temperaturen über 40 Grad, mit 7200 positiven und negativen Höhenmetern. Der Lauf findet in der Provinz Granada in Andalusien statt und führt über die Wege des Erbes von Al Andalus und durch die Sierras de Loja, de Tejeda, Almijara und Alhama sowie durch Naturparks. Geschlafen wird in Zelten, jede Nacht in einem anderen Camp. Das Gepäck für die fünf Tage, welches maximal 10 kg wiegen darf, muss nicht komplett mitgeschleppt werden und wird von der Organisation zu den Campsites transportiert. Nur der Laufrucksack mit der vorgeschriebenen Pflichtausrüstung ist während den fünf Etappen selbst zu tragen.
Teilgenommen habe ich an der 12. Edition im Juli 2021. Aber bereits einige Jahre davor war der AAUT in meinen Gedanken, wenn auch zu Beginn noch wie ein weit entfernter, funkelnder Stern, der mir unerreichbar erschien. Aber wie kam ich ausgerechnet zu diesem Lauf?
Als ich 2012 das Laufen für mich entdeckte, wurde mir schnell klar, dass mich lange Läufe durch fremde Gegenden und unter außergewöhnlichen Bedingungen faszinierten. Aber es dauerte 9 Jahre, bis ich an meinem ersten (längeren) Etappenlauf, dem AAUT, teilnahm, auch wenn ich bereits einige Läufe über 100km und kleinere Etappenläufe in Deutschland hinter mir hatte. Da ich im Jahr 2012 ebenfalls nebenberuflich das Verfassen meiner Doktorarbeit aufgenommen hatte, bestanden meine Ferien vor allem darin, zu arbeiten und zu schreiben. Zeit für Urlaub hatte ich während diesen unendlich langen 8 Jahren kaum. Als ich an einem schönen sonnigen Tag in den Sommerferien verzweifelt am Schreibtisch saß und alle meine Freunde im Urlaub waren, versprach ich mir selbst eine längere Reise durch Andalusien, sobald diese Doktorarbeit zu Ende geschrieben sei. Damals lief ich noch keine Ultras und ich wusste auch noch nicht, wie lange sich diese Arbeit hinziehen würde. Daher dachte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht an einen Etappenlauf durch Andalusien. Immer wieder wollte ich aufgeben und alles hinschmeißen. Das Laufen gab mir in solchen Momenten Halt und ermöglichte mir einen gewissen Ausgleich. Allerdings wurden die Läufe dann immer länger und das Training immer zeitintensiver, was natürlich das Schreiben verlangsamte. Aber ich glaube, ohne das Laufen hätte ich die Ausdauer und die Kraft nicht dazu gehabt, denn diese Arbeit lag wie Blei auf meinen Schultern und die Last begleitete mich Tag und Nacht. Zu der Zeit litt ich ebenfalls an chronischen Schlafstörungen.
Als ich mir diese Reise nach Andalusien versprach, las ich gerade Der Alchimist von Paulo Coelho. Die Geschichte beginnt und endet in Andalusien, und Santiagos Reise durch die Wüste zu seinem Schatz in den Pyramiden hat mich zu dem Zeitpunkt sehr inspiriert. Auch im Hinblick auf die langen Läufe stellte das Buch eine wichtige Quelle für mich dar. Auf sein Herz hören und diesem folgen, das Unmögliche wahr werden lassen, auch wenn es unmöglich erscheint, sich „in Wind verwandeln können“… diese Botschaften des Alchimisten haben mich auf meinem Weg sehr geprägt, weil ich eben ab einem bestimmten Zeitpunkt gerade nicht auf mein Herz hörte. Ich zog diese Doktorarbeit, die mir nach ungefähr drei bis vier Jahren nicht mehr am Herzen lag und nur noch eine Qual war, mit Ach und Krach durch. Aber ich war damals in der Hälfte und dachte, ich müsste dieses Vorhaben eben „finishen“ und fuhr fort.
Im Jahr 2016 bin ich meinen ersten kleinen Ultralauf von 46km gelaufen - und genau das war meine Welt. Die Distanzen wurden immer länger, mein Herz wollte nur noch laufen, aber diese alte Last lag immer noch auf meinen Schultern und stand mir im Weg. Etwa zu der Zeit entdeckte ich dann auch den AAUT. Das war einfach „mein“ Lauf. Ich wollte wie Santiago in Der Alchimist durch die Sierras von Andalusien ziehen, meinem Herzen folgen und Antworten auf alle Fragen, die ich an das Leben hatte, finden. Aber noch war dieser Traum weit entfernt, noch musste ich Geduld haben.
Drei Jahre später, im Oktober 2019, war es dann endlich soweit! Meine Doktorarbeit war fertig und konnte eingereicht werden. Ich dachte, dass es jetzt bald vorbei wäre. Aber das war nicht der Fall. Im Januar 2020 erhielt ich das erste Gutachten von einem meiner beiden Doktorväter, und noch schien alles super, denn ich hatte die Auszeichnung summa cum laude (entspricht der höchsten Bewertung). Doch dann folgte ein Anruf vom Dekan der Universität. Mein Hauptbetreuer, der mir während 8 Jahren nur positives Feedback gab, schrieb ein vernichtendes Gutachten. Zur Krönung begann zwei Monate später die Corona-Pandemie, und niemand wusste, wann die Disputation stattfinden könnte. Im April teilte die Uni mir mit, dass die Disputation im Juli 2020 stattfinden würde. Ich musste die Themen für die Disputation aussuchen und vorlegen, allerdings verschlimmerte sich das Benehmen meines Doktorvaters. Er lehnte alle vorgeschlagenen Themen ab, und am Ende blieben nur noch Themen, die mir völlig fremd waren. An Literatur zu gelangen war während des Lockdowns nicht so einfach. Zudem zog ich um und hatte eine Menge Kummer und Probleme.
Die Disputation fand schließlich im Juli über Zoom statt, dauerte insgesamt vier Stunden und war die größte Herabwürdigung, die ich bisher in meinem Leben erfahren habe. So gedemütigt habe ich mich noch nie gefühlt. Immer, wenn ich dachte, es könne nicht noch schlimmer werden, kam noch eins drauf. Am Ende prasselten die Worte nur noch an mir ab und kamen gar nicht mehr bei mir an. Aber ich habe bestanden. Doch das war mir egal, ich fühlte mich, als hätte man mich platt getrampelt. Und es ging noch weiter: Im August 2020 sollte die Arbeit dann in den Druck. Aber wieder erhielt ich die schlechte Nachricht, dass derselbe Doktorvater mir die Druckgenehmigung nicht erteilen wollte. Ich musste Teile der Dissertation überarbeiten, trotz der Bewertung magna cum laude (entspricht der zweithöchsten Auszeichnung), die ich schließlich noch erhalten habe. Ich wollte dagegen klagen, denn es reichte mir. Mein zweiter Betreuer sah das genauso und unterstützte mich. Aber zum Glück kam es nicht so weit. Im Oktober erhielt ich endlich die Genehmigung, und im Dezember 2020 war die Arbeit veröffentlicht. Ich konnte mich nicht darüber freuen und kann es heute immer noch nicht. Nur ein dicker Knoten blieb in meinem Magen zurück.
Zudem fühlte ich mich auf meiner Arbeit nicht mehr wohl, denn auch dort breiteten sich Machtspiele und das Gerangel nach politischer Macht mehr und mehr aus. Ich sah keinen Sinn mehr in meiner Arbeit, denn so diente sie nicht mehr der eigentlichen Sache, sondern stellte nur noch ein Sprungbrett dar für Personen, die in erster Linie an ihrer Karriere sowie an ihrem Image interessiert waren. Ich stellte mir immer mehr Fragen existenzialistischer Art. Was mache ich hier? Hat sich das alles gelohnt? Wo will ich hin in meinem Leben? So viele Fragen, auf die ich keine Antworten hatte.
Doch dann kam endlich die bombastische Nachricht Ende April 2021: Der AAUT wird im Juli 2021 stattfinden! Nach all den Jahren war mein Traum, an diesem Lauf teilzunehmen, zum Greifen nah. Ich konnte mein Versprechen einlösen und schenkte mir diese Reise durch Andalusien, wenn auch unter einer anderen Form wie zu Beginn geplant. Der AAUT war für mich meine persönliche Reise zu meinem Schatz, den ich schließlich auch gefunden habe. Nun blieben noch 2 Monate Vorbereitung: Training, lange Läufe, Equipment und Schlafsachen besorgen und testen, Trockennahrung selbst zubereiten und packen.
Anfang Juli startete dann meine Reise nach Andalusien. Die erste Station war Loja im Hotel El Mirador. Dort fand der Check-In statt und abends gab es ein gemeinsames Essen, bevor wir am nächsten Tag morgens um 9h00 unsere erste Etappe in Angriff nahmen. 27 Teilnehmer*innen standen an der Startlinie, und es waren bereits über 30 Grad. Normalerweise nehmen 50-60 Läufer*innen aus der ganzen Welt am AAUT teil, aber im Jahr 2021 war die Teilnehmerzahl aufgrund der Corona-Pandemie niedriger. Übrigens war der AAUT der erste Etappenlauf, der nach den ganzen Lockdowns und der Pandemie stattfand. Ich war sehr aufgeregt, aber zugleich überwältigt von all den Eindrücken. Der Blick auf die Sierra de Loja war einfach unbeschreiblich, und ich hatte das Glück, an diesem Abenteuer teil zu nehmen. Ich war bereit, sowas von bereit! Und dann ertönte der Startschuss.
Etappe 1: Startschwierigkeiten
Die erste Etappe war 38 Kilometer lang mit ca. 1170 positiven Höhenmetern, die es bereits überwiegend auf den ersten 11 Kilometern zu bewältigen galt. Sie endete in Alhama de Granada in einem Sportkomplex. Trotz der Vorfreude fühlte ich mich während des ersten Anstiegs nicht so wohl, die Hitze war ungewohnt und irgendwie war ich noch nicht so richtig drin. Ein Läufer, der schon öfters am AAUT teilnahm, kam an mir vorbei und versicherte mir, dass es bald besser wird. Und so war es dann auch. Nach dem 11 Kilometer langen Anstieg war ich am ersten Verpflegungspunkt und ich fühlte mich wohler. Die ganze Crew vom AAUT ist unglaublich herzlich, aufbauend und motivierend. Bei diesem Lauf wurde mir bewusst, wie wichtig die Organisation und die Betreuung auf der Strecke sind. Auf jeden Fall steckt bei diesem Lauf sehr viel Herzblut drin, und alle Volunteers geben einem genau das zu spüren.
Am ersten Tag hatten wir ca. 47 Grad, Schatten war nicht in Sicht. Vor dem letzten Checkpoint liefen wir durch ein Tal und mir wurde etwas flau. Und wieder kam in dem Moment der Läufer von vorher, zeigte nach vorne und sagte nur, dass der Checkpoint nicht mehr weit sei und ging weiter. Und wieder hatte er Recht. Ich blieb etwas sitzen, kühlte mich ab, trank eine kalte Cola und war gestärkt. Jetzt waren es nur noch ungefähr 8 Kilometer, und ich schaffte es, nicht mehr an die Hitze zu denken und einfach zu laufen, ohne überhaupt über etwas nachzudenken. Dann war die erste Etappe geschafft und es wartete eine Schüssel mit kaltem Wasser auf meine Füße.
In der Sporthalle standen unsere Zelte und es war so verdammt heiß da drin! Noch heißer als draußen. Ich ging duschen und wusch meine ganzen Klamotten gründlich aus. Wie ich im Laufe des AAUT feststellte, nahm diese gründliche Reinigung mit jedem Tag etwas mehr ab. Uns stand zudem ein Swimming Pool zur Verfügung, wir konnten auf der Wiese entspannen und eine Massage genießen. Klingt nach Luxus, oder? Geschlafen habe ich nicht besonders viel, denn es war so heiß in der Halle.
Etappe 2: The Boy in the bubble
Am nächsten Tag starteten wir um 8:00 von Alhama de Granada nach Játar. Die Strecke war 48km lang mit ca. 1440 Höhenmetern. Es hieß, dass diese Strecke besonders technisch sei. Nach ca. 27 Kilometern ging es in dem Dorf Játar in den Naturpark Sierra de Tejeda, Almijara y de Alhama. Dieser Verpflegungspunkt war ausschlaggebend, denn hier entschied sich, ob man weiterlaufen konnte. Aufgrund der Beschaffenheit des Terrains bestand keine Möglichkeit, im Falle von Schwierigkeiten abgeholt zu werden während den nächsten 10 Kilometern.
Auch an diesem Tag tat ich mich am Anfang unheimlich schwer, es lief nicht so richtig und ich konnte mich nicht am Lauf erfreuen. Meine Gedanken waren negativ und ich glaubte nicht an mich. Als ich den ersten Checkpoint erreichte, fragte mich unser betreuender Arzt Dr. James, ob ein bestimmtes Lied mich motivieren würde. Er wollte mir dieses Lied als Motivationsschub abspielen, da ich ihm erzählte, dass mein Kopf nicht mitspielte und ich mich mental nicht gut fühlte. Und ein solches Lied gab es in der Tat: The boy in the bubble von Patti Smith. Dr. James spielte mir ab dem Zeitpunkt an fast jedem Checkpoint dieses Lied vor, damit ich motiviert weiterlief.
An Checkpoint 2 in Játar angekommen, entschied ich mich weiterzulaufen. Auch dort spielten mir die Volunteers mein Lied vor und tanzten, während ich auf dem Stuhl saß und mich etwas stärkte. Dann ging es in die Sierra. Die kommenden 10 Kilometer hatten es in sich! Diese Passage nahm kein Ende. Auch an dem Tag waren über 40 Grad und ich kam nur sehr langsam voran, da es tatsächlich an einigen Stellen etwas technisch und steil war. Laut meiner Uhr sollte das Gröbste fast geschafft sein. Aber es ging immer noch hoch und hoch. Ich begann zu verzweifeln, da ich nicht mehr damit rechnete, rechtzeitig am nächsten Checkpoint zu sein, und ich befürchtete, dort auszuscheiden wegen der Cutoff-Zeit. Ich geriet in Panik und wollte nur noch weinen. Das war also mein großes Abenteuer in Andalusien! Meine persönliche Reise zu meinem Schatz. Vorbei während der 2. Etappe. Und dann ertönte wieder das Lied The boy in the bubble in meinen Kopfhörern, was irgend etwas ist in mir auslöste. Es war, als hätte man einen Hebel umgelegt. Ich hatte zwei Optionen: Weiterheulen und DNF oder rennen und weitermachen. Ich dachte eigentlich gar nicht darüber nach, sondern es waren meine Beine, die plötzlich immer schneller und schneller wurden. Und dann sah ich ihn vor mir, 3 Minuten vor der Cutoff-Zeit… Checkpoint 3! Ich hatte es geschafft. Dort saßen weitere Läufer, die ausschieden und zum Camp zurückgebracht werden sollten. Der Organisator des AAUT, Eric, fuhr heran und der Arzt fragte, ob ich weiterlaufen werde. Ich grinste nur und sagte: „Natürlich!“. Er sprach mir Mut zu und sagte, ich würde den AAUT sicherlich finishen. Mir ging es jetzt richtig gut, ich war endlich im Rennen und zum Leben erwacht! Und so lief ich auch gleich weiter, denn ich wollte ja rechtzeitig an Checkpoint 4 sein und schließlich das Camp in Játar erreichen. Und da ich gerade noch rechtzeitig CP3 erreichte, blieb nicht mehr viel Zeit.
Die Aussicht war nur grandios, oben war der blau schimmernde See Los Bermejales zu sehen und man konnte einen Blick auf die ganze Umgebung erhaschen. Ich verlief mich dann noch einmal kurz vor dem Ziel, ich hatte verpasst, nach rechts abzubiegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich Játar. Ich werde diesen Eindruck nie vergessen. Diese weißen Häuser, die steilen Straßen und dann die Bar „Los Angeles“, an der ich vorbeilief. Es kam mir so vor, als sei dieses Dorf eine Großstadt. Und dann war es endlich soweit… auch die zweite Etappe war geschafft und ich war platt nach 8 Stunden in der Hitze laufen und dem Stress, nicht rechtzeitig anzukommen. Wir hatten kaltes Wasser, um zu duschen, und auch an diesem Tag wusch ich noch meine Sachen aus. Aber die Gründlichkeit nahm bereits etwas ab. Ich wollte schnell in mein Zelt, etwas essen und schlafen, was mir sogar ein bisschen gelungen ist in der Nacht.
Etappe 3: Der „Schlangenbiss“
Am dritten Tag liefen wir 39 Kilometer (920HM) durch den Naturpark La Resinera von Játar nach Jayena. Mir ging es jetzt richtig gut, mein Kopf und meine Beine spielten mit. Die Landschaft auf dieser Etappe war „grüner“ als die anderen, wobei am Ende sehr viele Steine und Kies (Gravel) die Strecke prägten. Kurz vor dem Ziel hat mich dann irgendwas im Gebüsch am Knöchel gestochen oder gebissen. Es tat richtig weh, fing an zu jucken und etwas anzuschwellen. Ich hatte aber nichts gesehen. Ich lief dann schnell ins Ziel, um meinen Fuß genauer unter die Lupe zu nehmen. Es waren 3 kleine Einstiche zu sehen, und damit es etwas spektakulärer klang, nannte ich es „den Schlangenbiss“. Und so entstand schließlich die Geschichte vom Schlangenbiss in Andalusien.
Auch diese Nacht verbrachten wir in einem Camp mitten in der Natur. Am Abend gab es ein gemeinsames Abendessen: Paella und Salat, und dazu alkoholfreies Bier. Das war eine richtig gute Abwechslung! Keine Trockennahrung. Obwohl ich meine Nahrung aus frischen Zutaten selbst zubereitete, schmeckte dieses richtige Essen einfach besser. Vor dem Schlafengehen bereitete ich alles für die nächste, längste Etappe vor. Es sollte wieder sehr heiß werden! Aber nicht so in der Nacht. Ich fror total, und ich wickelte mich in jedes Tuch und Stück Stoff ein, das sich in meinem Gepäck befand. Ich hatte mir extra einen neuen Schlafsack zugelegt, der für wärmere Tage konzipiert war. Aber da es in dieser Nacht stark abkühlte, hielt er diesen Temperaturen nicht mehr stand. Zudem musste ich dauernd dringend aufs Klo, da ich abends sehr viel Wasser trank. Ich hatte ca. 3 Stunden geschlafen, und am Morgen war ich dann so richtig müde vor dem Start. Mir war etwas mulmig zumute, obwohl ich mich von Anfang an besonders auf diese Etappe freute, da mir ja eigentlich die richtig langen Läufe am liebsten sind. Und so war es dann auch. Die vierte Etappe war einfach der Hammer! Mit Sicherheit meine Lieblingsetappe.
Etappe 4: Der erleuchtete, gegrillte Hamburger
Die vierte Etappe führte von Jayena nach Alhama de Granada und war 68km lang mit 1500 Höhenmetern. Zuerst liefen wir am See Los Bermejales entlang, den ich schon während der zweiten Etappe bewundern durfte. Dort befand sich nach 23km der 2. Checkpoint. Ab dort war es vorbei mit schattigen Passagen. Die nächsten 7-8 km bis zum 3. Checkpoint ging es in der prallen Mittagssonne nur bergauf, was aber ganz gut lief. Mit meinen Laufstöcken hatte ich einen richtig guten Rhythmus gefunden und kam voran. Ich hatte noch jede Menge Zeit bis zur Cutoff-Zeit, im Gegensatz zum 2. Tag. Ab CP3 liefen wir durch einen Barranco, und ich durchlebte sehr intensive und erleuchtende Momente. Vielleicht lag es auch an der Sonne, aber ich sah plötzlich so klar, was ich in meinem Leben überhaupt nicht mehr haben möchte und warum ich die Art von Läufen so liebe. In dieser Sierra habe ich mich so frei gefühlt, befreit von einer Welt, die von menschlichen Normen, Wertungen und Bewertungen gekennzeichnet ist. Ich befand mich in einer Welt, in der all diese Dinge keine Rolle spielten und in der es nur die Hitze und den Berg gab. Und mich - außerhalb von festgelegten, menschlichen Konventionen, Regeln und Normen. Was ist hier normal? Was gilt als erstrebenswert? Als gut oder schlecht? Es ging nur darum, sich hier in dieser wunderschönen und abstrakten Sierra zu bewegen. Eis, ein kaltes Getränk waren für mich gerade jetzt „gut“. Vielleicht noch etwas Sonnencreme. Diese Art von Läufen wird oft als extrem bezeichnet, aber das war für mich keineswegs der Fall. Natürlich verlangten die Hitze, die vielen Kilometer, die Höhenmeter und der Schlafmangel dem Körper und dem Kopf viel ab. Ich befand mich schon in einer eher außergewöhnlichen Situation. Und genau das war der springende Punkt. Und so verlor ich mich in meinen Gedanken: Man ist es nicht gewohnt, sich außerhalb einer gewissen Komfortzone zu befinden. Aber ein Leben, in dem man sich alltäglich unter Stress und Druck wie in einem Hamsterrad bewegt, gilt für mich auch nicht als Komfort oder erstrebenswert. Hier frage ich mich genauso, warum der Mensch dies tut. Für Macht, Image oder Geld? Und wofür habe ich mir selbst all die Jahre diesen Stress angetan? Weil ich bestimmte Visionen hatte, daran geglaubt habe, etwas in der Welt zu bewirken und mir selbst bestimmte Werte auferlegte? Und will ich wirklich in einem System gefangen sein, in dem erwartet wird, dass man funktioniert, damit andere ihre Karriere aufwerten können und an Macht gewinnen? Mir sind Macht und Karriere nicht wichtig. Und andere bei ihren Machenschaften zu unterstützen, möchte ich nicht mehr. Ich möchte nur hier sein, in diesem Moment. Hier schlägt mein Herz. Und hier liegt er, mein Schatz.
Mit diesen Gedanken in meinem Kopf lief ich weiter in Richtung Cacin. Als ich in dieses Dorf herunterlief, war es unheimlich heiß. Ich lief auf Asphalt und hatte das Gefühl, dass die Sonne mich auf den Asphalt niederdrückt und ich wie ein Stück Eis in ein paar Sekunden geschmolzen bin. Als ich in Cacin ankam, war es totenstill. Mir kam sogar die Melodie eines Ennio Morricone Films in den Kopf, und ich fühlte mich gerade wie der letzte Cowboy auf Erden, der sich in einem verlassenen Dorf befand. Außer Staub und weißen Häusern war nichts zu sehen - bis plötzlich ein Mensch in einem pinkfarbenen T-Shirt hinter einer Fassade hervorsprang und von Cola sprach. Ich war mir im ersten Moment nicht sicher, ob es sich um eine Halluzination handelte. Aber der Mann war echt, er gehörte zum Staff und um die Ecke befand sich der nächste Checkpoint, den ich erst in 3 Kilometern erwartete. Und es gab tatsächlich Cola und Fanta Lemon. Es war noch eine weitere Läuferin direkt hinter mir und wir genossen zusammen den Schatten, das Eis, die Getränke und die Pause.
Dann liefen wir zusammen weiter, von Schatten keine Spur mehr. Fast 40 Kilometer waren nun geschafft, und es blieben noch ca. 28 übrig. Wir mussten dann einen kleinen Fluss überqueren. Ich zog meine Schuhe und Socken aus. Die Strömung war etwas stärker, und so versuchten wir, zusammen diesen Fluss zu überqueren. Zudem war es eine kleine Abkühlung. Und weiter ging es. Es galt jetzt nur noch, sich fortzubewegen bis zur nächsten Verpflegungsstelle. Durch dorniges Gestrüpp stiegen wir weiter hoch, bis wir oben auf einer Olivenplantage ankamen. Dann ging es über eine asphaltierte Straße weiter. Es war immer noch unglaublich heiß und wir wechselten zwischen Gehen und Laufen: Ein paar Meter laufen bis zum nächsten Baum oder zur nächsten Kurve, dann wieder gehen, und wieder ein paar Meter laufen… bis wir schließlich den letzten Checkpoint bei Kilometer 60 erreichten. Nun blieben nur noch 7-8km. Diese letzten Kilometer gingen überwiegend bergab, aber sie kamen mir ziemlich lang vor. Die Gegend war sehr trocken und buschig. Dann war plötzlich Alhama de Granada zu sehen. Noch weitere 3-4 Kilometer. Ich fühlte mich, als würde ich auf einem Grill liegen und richtig brutzeln wie ein Hamburger. Jetzt nur noch 2 Kilometer an einem See entlang zum Campsite. Nach gut 10 Stunden war endlich die Finishline vor meinen Augen! Wow, was für eine Etappe! Jetzt war nur noch die letzte Etappe zurück nach Loja zu bewältigen. Ich empfand eine unglaubliche Ruhe, Frieden, Freude, aber auch Traurigkeit. Natürlich freute ich mich auf eine Dusche, auf Essen und auf ein Bett. Aber gleichzeitig konnte ich mir nicht vorstellen, dies alles wieder zu verlassen. Ich hatte alles, was mich erfüllte, mehr brauchte ich nicht mehr.
Abends gab es dann noch ein gemeinsames Essen, Pasta und alkoholfreies Bier. Ich war nicht sehr hungrig und nahm mir noch etwas Pasta mit in mein Zelt. Ich bereitete noch alles für die letzte Etappe vor. Meine Laufsachen lagen mittlerweile einfach oben auf dem Zelt. Gewaschen habe ich sie nicht mehr. Auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Ich konnte gut schlafen, mit einer zusätzlichen Decke, die mir vom Staff gebracht wurde, damit ich nicht wieder fror.
Etappe 5: Der Schatz
Jetzt mussten nur noch die letzten 42 Kilometer und 1000 Höhenmeter von Alhama de Granada nach Loja gelaufen werden. Es war die gleiche Strecke wie bei Etappe 1, bloß umgekehrt. Bis zu Checkpoint 2 lief ich mit einem weiteren Läufer und die Zeit verflog unheimlich schnell. Es gab soviel zu quatschen, und schon waren die ersten 20km um. Ich lief anschließend allein weiter. Ich sah plötzlich die letzten Jahre meines Lebens Revue passieren. Und nun war ich hier in Andalusien und mein Geschenk war so gut wie eingelöst. Ich habe den AAUT, der seit gut 5 Jahren in meinem Kopf umherschwirrte fast gefinisht. Natürlich wollte ich endlich in Loja ankommen und die Finishline überqueren, aber ich wollte nicht, dass es endet. Ich ging dann bewusst langsamer und wollte den Moment einfach nur festhalten. So lang wie möglich noch hier sein. Dann überkamen mich sehr starke Emotionen und mir liefen die Tränen einfach nur die Wangen herunter. Aber es waren keine Tränen der Traurigkeit, sondern es war einfach nur Überwältigung und Erfüllung. Als würde alles aus mir herausgespült werden und mich erleichtern. Mir fiel dann eine Passage aus dem Alchimisten ein, in welcher Santiago auf sein Herz hört, das ihm ins Ohr flüstert: „Achte auf den Ort, an dem du weinen wirst. Denn an jenem Ort werde auch ich sein, und dort liegt dein Schatz begraben.“ Mir wurde bewusst, dass dies alles hier mehr darstellte als ein „Traumlauf“, an dem ich einmal teilnehmen wollte. Diese Gegend hatte etwas Magisches und tief Erfüllendes. Und ich wusste jetzt auch, dass in meinem Leben größere Veränderungen anstehen würden. Dass ich meine Arbeitsstelle im September verlassen würde, war mir klar und in die Wege geleitet. Aber es ging über diesen Wechsel hinaus. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich noch in keiner Weise, wie das Erlebte meine Person beeinflussen würde, was es bedeutete und welche Auswirkungen es auch tatsächlich auf meine Zukunft haben würde.
Irgendwann hatte ich mich dann gefangen und lief die letzten 11 Kilometer des AAUT 2021. Der steile Anstieg zu Beginn von Etappe 1 musste jetzt runtergelaufen werden, was nach 224 Kilometern in den Beinen ebenfalls eine Herausforderung darstellte. Aber es war mir egal, wie sich die Beine anfühlten. Ich lief einfach und empfand absolute Zufriedenheit. Und dann war der große Moment da… ich überquerte die Straße in Loja zum Hotel El Mirador, wo sich die Finishline befand. Ich hatte es tatsächlich geschafft! Diese ganzen Eindrücke waren so massiv, aber in dem Moment war ich einfach nur glücklich auf meinem Stuhl mit Cola, Chips und all den großartigen Menschen, die ich während dieses Laufes kennenlernte.
Was die Organisatoren und die Volunteers betrifft: All diese Menschen zusammen machen solche intensiven, unvergesslichen und prägenden Erfahrungen überhaupt möglich. Ein solches Abenteuer unter diesen Bedingungen könnte auch ganz anders verlaufen, wenn die Versorgung, Organisation und Sicherheit nicht so einwandfrei wären. Nicht zu vergessen die unglaublich positive Energie, Motivation und Freundlichkeit, die diese Menschen den Läufer*innen entgegenbringen.
Abends gab es dann noch ein Gala-Essen, bevor es am nächsten Tag wieder hieß, in das „normale“ Leben zurückzukehren. Mein Herz begann sich sehr schwer anzufühlen. Und die nächsten Wochen waren auch unglaublich hart für mich. Andalusien zu verlassen und mich wieder in den Alltag zu integrieren ist mir nicht wirklich gelungen. Mein Herz befand sich immer noch dort. Und eigentlich wollte ich ja auch nicht mehr in das alte Leben zurück. Der AAUT hat mir etwas sehr Wichtiges gezeigt und mir eine sehr bedeutsame Fähigkeit geschenkt: Die Welt mit meinem Herzen zu betrachten. Und meinen Schatz habe ich gefunden und geöffnet.
Und so sollte dieses Erlebnis natürlich noch ein Nachspiel haben. Nach zwei Wochen meldete ich mich für einen weiteren 220km langen Etappenlauf in Andalusien im Dezember an. Ich musste noch einmal zurück und herausfinden, was es mit meinem Herzen auf sich hatte, warum es dort so stark schlug. Aber das ist dann die nächste Geschichte.